Yaara Ben-David
Yaara Ben-David ist eine israelische Dichterin, Collagenkünstlerin und Literaturkritikerin.
Sie hat Gedichtbände und Sachbücher mit Aufsätzen und literarischen Rezensionen veröffentlicht.
Ihre Arbeit wurde von der Kritik hoch gelobt und mit Literaturpreisen wie dem israelischen Premierministerpreis für kreative Arbeit, dem Tchernichovsky-Preis der Hebrew Writers Association in Israel und einer ehrenvollen Erwähnung im Brenner-Preis der Hebrew Writers Association ausgezeichnet.
Liedübersetzung
Der Flüchtling
1.
Die Menge der Tränen in der Welt ist konstant,
nur ihre Verteilung ist unberechenbar wie Quecksilber.
Wenn ein Mensch weint, hört ein anderer auf zu weinen,
sagte der große Beckett, aber jemand anders schrieb,
das Weinen sei die gewaltige Geige der Welt,
die unter dem Bogen des Schicksals erbebt.
Von nirgendwo nach nirgendwo. Ein rollender Stein.
Wer bin ich, fragt der namenlose hungrige Flüchtling,
der im Nirgendwann erwacht, sein Kind und sein Bündel
mit erfrorenen Fingern packt, befallen vom Virus jenes Schreis
auf der Brücke aus einem anderen Jahrhundert.
Weiter und weiter gehen zum flimmernden Licht
eines kleinen Hauses, zum tröstenden Immergrün.
In Zeiten des Bösen ist die Heimat in sein schäbiges Bündel
geschnürt. Er trägt es überall mit sich.
Und wie vererbt man eine Heimat
unter fremdem Himmel?
2.
Was die Erde nicht weiß, weiß der Sternenhimmel.
Was die Erde nicht verschlang, verschlingt das trunkene Meer
und spuckt es auf den Strand. Und das Licht ist die Grauzone
zwischen Gleiten und Notlandung.
Wer bin ich, schwebt die Frage des Mannes im Raum
wie ein Zugvogel im Flug.
3.
Wege. Straßen hupen in die Ferne, pulsieren
in Rhythmen fremder Sprachen.
Oder ist das alles nicht wahr?
Hartnäckiger Winter. Eine Frau mit ihren Kindern
auf dem Bahnsteig vor dem Einbruch der Dunkelheit.
Labyrinth aus Heimweh und Flucht.
Doch aus der schwarzen Jacke des Mannes,
der vor ihr geht, wehen noch Gerüche
des fernen Hauses, aus dessen Trümmern
die Abrechnung wächst, und dann
ist der Weg nicht mehr weit
zur geballten Faust der Gestrandeten.
4.
Ein Flüchtling und sein wandernder Schatten.
Eine Schleppe aus Rauch aus einem Land der Tränen
haftet wie Flachsfasern an den Kleidern,
am Haar, an den in Frost gestanzten Atemwolken.
Sein Gesicht glüht in Flammenblüten.
Seine Füße jagen wie der Steppenwolf.
Der Schatten der Berge flieht und nach ihm die Sintflut.
Neben dem Grenzzaun ein zerfetzter Mann.
Er wird nicht mehr zurückkehren.
5.
Ich bin ein Flüchtling der Gezeiten meiner Eltern,
die aus Ur Kasdim hierher gewandert sind,
trunken von Dattelwein und dem Klagen
der Harfen, die an den Weiden hängen
Ich sitze in der Schaukel meiner Kindheit,
die peitschend die Lüfte durchfliegt,
zum Licht empor von der Erde
und ich in ihrem Schoß
im violetten Verdämmern des Abends
meine Träume in mir verborgen
wie Zettel in den Ritzen der Klagemauer,
den Honig argloser Blindheit auf meiner Zunge.
Übersetzung aus dem Hebräischen: Beate Esther von Schwarze
Brüssel 2016
Der Himmel brach über Émile Verhaeren zusammen,
schrieb Majakowski, als der geliebte Belgier
mit dem sanften Lächeln und dem poetischen Überschwang
unter den Rädern des Zuges zermalmt wurde.
Zuvor, im Ersten Weltkrieg, war über den arglosen Émile
der Himmel seines blutenden Belgien
im deutschen Überfall zusammengebrochen.
Doch niemand ahnte, dass hundert Jahre nach seinem Tod
das Chaos in Belgien
einen bitteren Beigeschmack
in die Süße der berühmten Pralinen
mischen würde.
Jetzt lüftet auch René Magritte
seinen Sargdeckel,
saugt an seiner Pfeife, blickt auf die Uhr,
verwirrt von seinen paradoxen Bildern,
ein Erdbeben der Illusionen,
das die Blößen des einundzwanzigsten Jahrhunderts heraufbeschwört.
Und wie soll man Realität malen, wenn nicht im Angsttraum ihrer Schatten,
im verschwimmenden Blick, im Versinken ins Innere.
Brüssel.
Übersetzung aus dem Hebräischen: Beate Esther von Schwarze